* 24. Oktober 1929
† 6. Februar 2022
von Jörg Krämer
Essay
Während Crumb seit etwa zwanzig Jahren in Nordamerika zu den renommiertesten zeitgenössischen Komponisten zählt, wurde seine Musik in Deutschland erst in den letzten Jahren allgemeiner bekannt. Die zögernde und verspätete Rezeption mag darin begründet sein, daß in den Zeiten einer dogmatischen Bestimmung musikalischen »Fortschritts« Crumbs experimentelle, aber nicht avantgardistische Haltung, sein unbekümmerter Rückgriff auf alle erreichbaren historischen Musikstile, der universalistische Einbezug außereuropäischer Musik, die häufig phantasieartige Anlage seiner Stücke und die oft programmatische Religiosität problematisch erscheinen mußten. Erst im Zuge der Diskussion über die sogenannte »Postmoderne« wurde Crumb in Deutschland allmählich als ein wichtiger Grenzgänger der Moderne entdeckt, dessen archaisch-mythische Konzeptionen offen zu vielfältigen Traditionen stehen (vgl. Danuser 1987, 10; Gruhn 1989).
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Die frühen Werke aus Crumbs Jugend- und Studienzeit (1939–59) knüpfen an die Traditionen der Spätromantik, später auch der klassischen Moderne an und tragen noch kaum Züge seines Personalstils. In der Sonata für Violoncello solo (1955) reflektiert Crumb die Kompositionstechniken der großen Solowerke von J.S. Bach bis Kodály. Die zwölftönigen Variazioni für Orchester (1959), an der Wende zu Crumbs reifem Stil, sind von Bartók und der 2.Wiener Schule beeinflußt, gehen aber formal eigenständige Wege: Die traditionelle Abfolge ...